Inge Hannemann, darauf haben wir 8 Jahre gewartet

                       

                           Bild Buchcover Die Hartz IV Diktatur                                                                  

Seit 2004 (den ersten Verfassungsbeschwerden gegen Hartz IV) warten wir vergeblich darauf, dass das Bundesverfassungsgericht die Sanktionspolitik der Regierung gegen Erwerbslose ausdrücklich als Verstoß gegen das Grundgesetz bezeichnet und damit unterbindet. Doch dieses Gericht hat bis heute alle diesbezüglichen Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen und eine Stellungnahme zu den Sanktionen in das Existenzminimum verweigert. 

Kein Richter in Deutschland hatte bislang den Mut, die Sanktionspolitik gegenüber Erwerbslosen öffentlich zu kritisieren, was dafür spricht, dass die RichterInnen sich als Beamte alten Stils verstehen, die sich nicht dem Grundgesetz, sondern der Regierung verpflichtet fühlen. Das ist ein Verstoß gegen das Gebot richterlicher Unabhängigkeit in Art. 97 GG und ein Verstoß gegen das Gebot der Gewaltenteilung in Art 20 GG.

Umso mehr ist es hervorzuheben, dass sich nun eine langjährige Jobcenter-Mitarbeiterin, Inge Hannemann aus Hamburg, öffentlich zur Grundrechtswidrigkeit der Jobcenterpolitik bekennt und an das Gewissen ihrer KollegInnen appelliert.  

In einem Offenen Brief vom April 2013, den Sie auf ihrer Internetseite http://altonabloggt.wordpress.com/2013/04/11/meine-auseinandersetzungen-um-altonabloggt-und-den-akteuren/ finden, oder direkt auch hier, schreibt sie von der begründeten Angst vor Repressalien und vor dem Verlust des Arbeitsplatzes im Jobcenter, und dennoch fragt sie, was mehr wiegt, die eigene Existenz oder die Existenz eines würdigen Lebens von Millionen Erwerbslosen. Eine solche Haltung angesichts einer zunehmend faschistoiden Politik und Unternehmensunkultur kann gar nicht genug hervorgehoben und anerkannt werden. Am 22.4.2013 wurden ihr die Schlüssel zum Jobcenter abgenommen, ihr Online-Zugang zum Jobcenter-System wurde gesperrt und sie durfte das Jobcenter nur noch in Begleitung des Hausmeisters betreten. 

Sie rief die JobcenterkollegInnen in ihrem Offenen Brief zu einer Schweigeminute am 2. Mai 2013 um 11.55 Uhr auf "für alle Erwerbslosen, die wir in Not, in Demütigung und in den Verlust der Menschenwürde getrieben haben."

Für den 8. Mai 2013 wurde zu einer Demonstration in Hamburg gegen die Existenzbedrohung durch Sanktionen und die Einschränkung der Grundrechte bzw. für das Recht auf Leben aufgerufen. Doch noch im April hat Frau Hannemann diese Demonstration abgesagt. Die Kulisse war ihr zu bedrohlich geworden. Ein Telepolis-Interview mit ihr vom 6.5.2013 unter dem Titel "Fordern und Fordern" finden Sie hier. Am 6.6.2013 fand auf ihren Eilantrag gegen ihre Suspendierung eine öffentliche Anhörung vor dem Arbeitsgericht in Hamburg statt, dazu hier ein Video des NDR vom selben Tag: http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/hamburg_journal/media/hamj27433.html 

Im November 2013 hat sie eine öffentliche Petition für die Abschaffung aller Hartz-IV-Sanktionen beim Bundestag eingereicht. Diese Petition mit der Nummer 46483 hat über 80.000 Mitzeichner bekommen (der direkte Link ist auf dieser Internetseite unter Mitzeichnungs-Möglichkeit).

Ihre Aktionen brauchen Öffentlichkeit und Unterstützung! Die Zusammenarbeit mit Ralph Boes, der von der Bild Zeitung am 6.12.2012 auf der Titelseite als "Deutschlands frechster Hartz-IV-Schnorrer" hochgelobt wurde, klappt schon. An der Reaktion der Medien auf ihren Blog lässt sich der Zustand dieser sogenannten Demokratie ablesen, von der der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning (FDP), sich nicht scheute, am 25.4.2013 vor dem UN-Menschenrechtsrat zu behaupten, sie habe "starke Institutionen zum Schutz, zur Förderung ud zur Verwirklichung der Menschenrechte." Sie hat sogar bunkermäßig starke Institutionen, doch nicht um die Menschenrechte zu schützen, sondern die faschistoide Politik und Augenauswischerei der Regierung.

Demokratie wird in Deutschland mit einer Hammelherde verwechselt, bei der das einzelne Tier der Mehrheit folgt, egal wohin. Abweichler werden von den Hunden im Namen des Mehrheitswillens eingefangen. Die Grundrechte gelten nur für jene, die sie nicht brauchen, weil sie der Mehrheit folgen. Wie sagte doch Adolf Hitler in seiner Regierungserklärung vom 23.3.1933 : "Die Regierung wird die Gleichheit vor dem Gesetz allen zubilligen, die in der Frage der Rettung des Volkes sich hinter die nationalen Interessen stellen." Diese Gehorsamsforderung ist auch heute selbstverständliche Praxis deutscher Regierungspolitik.

Von den parteigebundenen Abgeordneten, die sich als "Verwalter der Steuerzahler" verstehen, wie das der SPD-Abgeordnete Klaus Brandner als Vorsitzender der Deutsch-Ägyptischen Parlamentariergruppe in einem Interview vom 7.4.2013 (Sendung vom 21.4.2013) im Deutschlandfunk formulierte, und die den schleichenden Rückbau der Menschenrechte betreiben, ist in Richtung Demokratie nichts mehr zu erwarten. In ihrer finanziellen Fixiertheit sind sie blind für die eigenen Verletzungen der Menschenrechte und stehen mehrheitlich hinter der menschenverachtenden Sanktionspolitik. Herr Brandner selbst, der meint, aus dem Deutschen Parlament Demokratie-Know-How nach Ägypten exportieren zu können, war unter Gerhard Schröder wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, dann 2007-2009 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Soziales (O. Scholz) und ist damit ein verantwortlicher Träger der Hartz-IV-Politik, die zum Exportschlager der Regierung wurde, weil sich Völker ohne Grundrechte leichter führen lassen, so dass das Rezept, wie man die Grundrechte aufheben kann unter Wahrung des Anscheins, dass sie weiter bestehen, große Nachfrage erfährt. Brandner sitzt gleichzeitig im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, was wie die Faust aufs Auge passt, aber Sinn ergibt, wenn man bedenkt, dass dieser Ausschuss es ist, der Menschenrechtsverletzungen aufzeigt oder unter den Tisch kehrt. In seinem Interview schwärmte Brandner, Deutschland habe das universelle Menschenrecht ganz vorne in die Verfassung gesetzt, nicht beeinflussbar durch religiöse Traditionen. "Das ist ja unser Selbstverständnis", sagte er und erzählt das genauso in anderen Ländern. Die Hartz-IV-Politik, die inzwischen auf ganze Staaten angewendet wird (keine Leistung ohne Gegenleistung bzw. kein Geld ohne Gehorsam), steht jedoch sehr wohl unter dem Einfluss religiöser Traditionen, denn sie wird mit einem Bibelzitat von Paulus gerechtfertigt (Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen) und interessiert sich nicht im Geringsten für die Wahrung der Menschenrechte.

Ohne die Wahrung der Menschenrechte gibt es keine Demokratie, auch wenn die Regierung von einer Mehrheit gewählt wurde! Wo das sogenannte Recht des Stärkeren bzw. der Mehrheit sich gegen die allgemeinen Menschenrechte bzw. die individuellen Grundrechte durchsetzt, herrschen faschistoide Zustände, auch wenn sich das betreffende Land formal demokratisch nennt. Dazu ein aktuelles Beispiel: Aus Anlass der Proteste gegen die türkische Regierung fragte der Moderator der ARD-Sendung Brennpunkt, Sigmund Gottlieb, am 16.6.2013 aus naivem Demokratieverständnis heraus: "Wer hätte es für denkbar gehalten, daß eine demokratisch gewählte Regierung zulässt oder sogar anordnet, was in der vergangenen Nacht in Istanbul passiert ist [die gewaltsame Räumung des Gezi-Parks]?" Der leitende Redakteur der türkischen Tageszeitung Hürriyet, Ahmed Külaci zeigte dagegen ein tieferes Demokratieverständnis. Auf die Frage des Moderators, was hinter dem Bürgerprotest in Istanbul stecke, verwies er auf das autoritäre Verhalten des Ministerpräsidenten, der sage, "ich bin gewählt worden von der Mehrheit, ich mache, was ich will." Für diese Haltung dient die deutsche demokratische Regierung als Vorbild. Külaci dagegen verteidigte die Grundrechte und hielt der autoritären Regierungshaltung ein klares "Nein" entgegen: "Nein, in einem demokratischen Rechtsstaat dürfen auch die Gewählten nicht alles machen, was sie wollen; auch die Erwartungen von den Minderheiten müssen berücksichtigt werden." Dieses Demokratieverständnis kann Herr Külaci unmöglich von der deutschen Politik gelernt haben, die mit der Polizeiaktion im Stuttgarter Stadtgarten gegen die Gegner des Bauprojekts Stuttgart 21 eine Vorlage für die Parkräumung in Istanbul geliefert hat.

Wer die zugesicherte Wahrung der Grundrechte einfordert, und sei es durch schweigendes Hinstehen, veranlasst faschistoide Politik, die demokratische Maske abzulegen und sich zu offenbaren. In diesem Sinne hat sich nun auch die Bundesagentur für Arbeit in ihrer Pressemitteilung vom 14.6.2013 zu Frau Hannemann offenbart: http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/Pressemeldungen/2013/Presse-13-035,mode=print.html . Die Gegendarstellung von Inge Hannemann finden Sie hier

Für die Schergen faschistoider Politik kann es hilfreich sein, sich die Schlussworte von Wilhelm Keitel (1882-1946), Generalfeldmarschall unter Adolf H. zu vergegenwärtigen, die er am 31.8.1946 vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal sprach, bevor er von dem internationalen Gericht zum Tod durch Erhängen verurteilt wurde: "Ich habe geirrt und war nicht imstande zu verhindern, was hätte verhindert werden müssen. Das ist meine Schuld. Es ist tragisch, einsehen zu müssen, daß das Beste, was ich als Soldat zu geben hatte, Gehorsam und Treue, für nicht erkennbare Absichten ausgenutzt wurde, und daß ich nicht sah, daß auch der soldatischen Pflichterfüllung eine Grenze gesetzt ist."

Es ist immer erfreulich, wenn nicht nur schlechte Beispiele, sondern auch gute Beispiele Nachahmung finden (wobei "gut" und "schlecht" zwar relativ sind, im vorliegenden Fall jedoch auf die Wahrung der Grundrechte bezogen werden). So hat sich ein junger Student durch Inge Hannemanns Blog ermutigt gefühlt, aus seiner Position an der "Hochschule der Bundesagentur für Arbeit" in Mannheim die Jobcenter-Politik anzugreifen, und ist dafür am 7.11.2013 von der Bundesagentur schriftlich abgemahnt worden. In dem Schreiben erinnert ihn die BA u.a. an die von ihm unterzeichnete Dienstvereinbarung und "Niederschrift über die förmliche Verpflichtung nichtbeamteter Personen" und betont, die Zentrale habe die "Dienstvereinbarung IKT mit der HEGA 08/11-07 präzisiert bezüglich konkreter Aussagen, dass auch die private Internetnutzung außerhalb der BA keinen rechtsfreien Raum darstellt. Die öffentliche Verbreitung (hierzu zählen auch geschlossene Foren ...) von Kundendaten oder Äußerungen, die die BA in Misskredit bringen können, ist zu unterlassen und kann zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen führen oder Schadensersatzansprüche auslösen."

Die Bundesagentur scheint sich mit dem amerikanischen Geheimdienst NSA zu vergleichen, obwohl sie - anders als der Geheimdienst - nicht im rechtsfreien Raum operiert, sondern die Grundrechte zu beachten hätte, wenn es eine Justiz in Deutschland gäbe, die sich den Grundrechten verpflichtet fühlt. Marcel Kallwass betreibt einen Blog unter "kritischerkommilitone.wordpress.com" und hat das mit "Abmahnung" betitelte Schreiben der BA dort veröffentlicht. Alle Mitarbeiter der BA werden 'Vereinbarungen zur Eingliederung in das Duckmäusertum' zu unterzeichnen haben. Und das soll genügen, damit die Grundrechte im großen Stil mit Füßen getreten werden können ohne dem Ansehen der BA zu schaden.  

letzte Änderung: 14.1.2014, Bild eingefügt 2015